Nach Le Mans beginnt für die Sportwagen die zweite Saisonhälfte – nicht unbedingt immer quantitativ, aber gefühlt in jedem Falle. Für die European Le Mans Series steht am Sonntag das dritte von fünf vierstündigen Saisonrennen auf dem Plan. Seit dem Relaunch der Serie 2013 ist der Red Bull Ring in der Steiermark regelmäßiger Austragungsort und wie in den vergangenen beiden Jahren teilen sich die Sportwagen das Wochenende mit der Formula Renault 3.5 – für die Fans ist das erfreulich, denn bei deren Rennwochenenden ist der Eintritt stets frei und so auch diesmal. Die neue Tourenwagen-Serie TCR wurde für 2015 auch noch mit ins Boot geholt, sodass den Fans vor Ort ein buntes Programm geboten wird.
Sportwagenrennen in Zeltweg haben eine lange, aber keine kontinuierliche Tradition. Schon in den 60er Jahren wurden auf dem alten Flughafenkurs im Tal des Aichfeldes die ersten 500-km-Rennen ausgetragen (den ersten Sieg holten 1966 Hans Herrmann und Gerhard Mitter auf Porsche), bevor dann ab 1969 auf dem damals brandneuen Österreichring gefahren wurde. Diese schnelle Bahn am Hang der Niederen Tauern war für Sportwagen-Prototypen wie geschaffen: Fahrerlegenden wie Jo Siffert, Jackie Ickx, Brian Redman und Henri Pescarolo fuhren hier ab 1971 Siege ein. Pescarolo/Larrousse absolvierten 1973 im Matra-Simca MS670B die 1000-km-Distanz in vier Stunden und 48 Minuten – das zeigt, wie schnell die damalige Bahn war. 1976 war jedoch vorerst Schluss.
Zwischen 1997 und 2001 kehrte die FIA GT mit 700-km- bzw. 500-km-Läufen auf den kürzeren (und langsameren) A1-Ring zurück. Seit 2013 nimmt die European Le Mans Series diesen Platz ein und setzt die Sportwagen-Geschichte in Österreich fort. 2013 siegte Thiriet by TDS Racing im dreistündigen Lauf, 2014 Signatech-Alpine über die verlängerte 4h-Distanz. Da Signatech in diesem Jahr in der WEC antritt, ist der Titelverteidiger nicht am Start – dafür ein starkes Feld mit einem vollen Dutzend LMP2-Boliden.
Favorit in der LMP2-Klasse und damit auf den Gesamtsieg ist Thiriet by TDS Racing. Nicht nur weil das Team, wie oben erwähnt, bereits 2013 hier gewonnen hat, sondern auch weil es in diesem Jahr bisher eine sehr starke Performance an den Tag legte. Auf Rang 3 beim Auftakt in Silverstone folgte der Sieg im zweiten ELMS-Lauf in Imola. In Le Mans lagen Pierre Thiriet, Tristan Gommendy und Ludovic Badey auf Rang 2, als sie in der Nacht von einem GTE-Aston Martin von der Strecke geschubst wurden. Wie stark das Oreca 05-Chassis ist, auf das das Team seit dieser Saison setzt, zeigte jedoch in Le Mans auch die makellose Vorstellung des KCMG-Teams aus der WEC. Der französische Wagen lief schnell und technisch einwandfrei, ebenso der Nissan-Motor. Kein anderes ELMS-Team setzt bislang auf diese Kombination – technischer Vorteil: Thiriet.
Die härteste Konkurrenz stellten bislang in dieser Saison Greaves Motorsport (Sieg in Silverstone) und Jota Sport (zwei ELMS-Podien plus Rang 2 in Le Mans) mit ihren Gibson-Nissans dar. Auch in der Meisterschaftswertung – in der bei nur fünf Läufen (Le Mans zählt nicht zur ELMS dazu) jedes Rennen von größter Bedeutung ist – sind diese beiden die engsten Verfolger: Greaves liegt nur zwei, Jota sechs Zähler hinter Thiriet. Zwischen diesen drei Teams wird sich voraussichtlich der Kampf um den Rennsieg entwickeln. Jota tritt wieder mit seiner Standard-ELMS-Besatzung Dolan/Albuquerque/Tincknell an, Greaves mit Hirsch/Wirdheim/Lancaster.
Reingrätschen könnte in den Kampf ums Podium wieder einmal Murphy Prototypes, für die in Imola der Ü60-Gentleman Driver Mark Patterson mit einer starken defensiven Fahrt Rang 2 ermöglichte. Mit Nathanael Berthon und Michael Lyons unterstützen ihn zwei Youngster. Krohn Racing hat sich über die kurzen Distanzen mit dem Ligier JS P2-Coupé bislang besser geschlagen als in Le Mans, wo Tracy Krohn eine Pirouette nach der anderen auf den Asphalt zauberte.
Das zweite Onroak-Ligier-Coupé wird vom Neueinsteiger Algarve Pro Racing eingesetzt. Als Piloten sind Michael Munemann und James Winslow (beide bereits mit einem kurzen Le Mans-Auftritt im Vorjahr) sowie der junge Italiener Andrea Roda gemeldet; bestenfalls dürfte für das neue Team aus Portugal erstmal das Mittelfeld drin sein, die weitere Entwicklung wird man abwarten müssen.
Spannend ist auch die Frage, wie sich das BR01-Chassis des russischen SMP Racing-Teams weiter entwickelt: In Le Mans waren die beiden Wagen überraschend flott und solide unterwegs. Wenn die Mannschaft den Wagen über die ELMS-Saison weiterentwickelt, könnte 2016 einiges möglich sein, bevor der Wagen dann ab 2017 obsolet wird.
Denn in der vergangenen Woche hat der ACO die vier auserwählten LMP2-Konstrukteure für die Ära ab 2017 bekannt gegeben: Oreca und Onroak waren selbstverständlich, hinzu kommt Dallara, die schon einige Jahre lang keine eigenen Le Mans-Prototypen gebaut, aber andere Hersteller unterstützt bzw. beliefert haben. Den vierten, für einen nordamerikanischen Hersteller vorbehaltenen Slot hat die Kombo aus Riley und Multimatic zugesprochen bekommen, auch das wurde im Vorfeld erwartet, denn HPD erfüllt als Zweig der Marke Honda nicht die Anforderungen. Auch Ginetta und eben BR Engineering, die das aktuelle SMP-Auto konstruiert haben, sind leer ausgegangen.
In der LMP3-Klasse bleibt es zunächst bei einheitlichen Boliden der Kombination Ginetta-Nissan, die Konkurrenz von Oreca und Onroak lässt noch etwas auf sich warten. Unter anderem ist in dieser Klasse auch Nissan-LMP1-Pilot Mark Shulzhitskiy am Start – er teilt sich das Auto mit Gaetan Paletou, der in Le Mans in der LMP2 kurzfristig bei Greaves Motorsport eingesetzt wurde. Da das die Meisterschaft anführende Team der University of Bolton das Rennen in Österreich auslässt, besteht für die Verfolger die Möglichkeit, den Rückstand aufzuholen. Gründe für die Nicht-Meldung wurden nicht genannt – ebenso wenig vom Lanan Racing Team, das ebenfalls eine Runde aussetzt, sodass die LMP3 auf nur vier Fahrzeuge schrumpft.
Acht Fahrzeuge sind in der LM GTE gemeldet, wie gewohnt mit Ferrari-Übermacht. Die Klassensiege gingen bislang jedoch nicht an die üblichen Verdächtigen von AF Corse (drei Ferrari 458) oder Proton Racing (Porsche 911); auch MarcVDS mit dem einzigen in Europa eingesetzten BMW Z4 GTE hat bislang zweimal das Podium knapp verpasst. Die Klassensiege gingen bislang an Gulf Racing UK, deren Porsche von Platin-Pilot Adam Carroll, Michael Wainwright und Daniel Brown (der aus der GTC in die GTE aufsteigt) pilotiert wird, sowie an AT Racing aus Österreich, für die Vater und Sohn Talkanitsa sowie als Profi Allesandro Pier Guidi auch in Österreich an den Start gehen.
Auch Proton Competition (Porsche 911, u.a. mit Werksfahrer Richard Lietz) und JMW Racing (Ferrari mit homogener Silber-Besetzung) konnten in der heiß umkämpften und bunt durchmischten Klasse in diesem Jahr bereits je einen zweiten Rang einfahren. In der Meisterschaftswertung liegen zwischen dem erstplatzierten AT Racing-Porsche und dem siebtplatzierten Formula Racing-Ferrari nur neun Punkte – hier ist also noch alles offen.
Auch in der GTC-Kategorie für GT3-Autos sind die Abstände gering. Mit nur fünf Fahrzeugen (davon drei AF Corse-Ferrari 458) ist diese allerdings nicht mehr so stark besetzt. Silverstone-Sieger TDS Racing führt mit dem BMW Z4 GT3 und der Besatzung Perera/Lunardi/Dermont die Meisterschaft an, fünf Punkte vor dem besten der drei AF Corse-Trios, der #64 mit Rasmussen/Barreiros/Guedes. Der dänische Aston Martin mit u.a. Kristian Poulsen und Casper Elgaard konnte nach zwei Unfällen bislang nicht punkten; dennoch sollte auch dieses Team mit dem Fernziel Le Mans (2015 reichte es nur für die Reserveliste) nicht unterschätzt werden.
Das 4h-Rennen startet am Sonntag um 13:30 Uhr. Wer das Rennen in Deutschland live sehen möchte, muss auf den offiziellen Stream bei Dailymotion zurückgreifen – oder gleich spontan in die Steiermark fahren. Denn MotorsTV überträgt nur eine geschnittene Fassung des Rennens ab 21 Uhr am Sonntagabend.