Home LMS24 H Le Mans 24 Stunden von Le Mans – die große Analyse, Teil 1: Toyotas „Le Mans-Blues“

24 Stunden von Le Mans – die große Analyse, Teil 1: Toyotas „Le Mans-Blues“

von StefanTegethoff
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Am Sonntag vor einer Woche habe ich über die vielen Geschichten geschrieben, die sich in einem 24 Stunden-Rennen abspielen, und über die Emotionen, die damit einhergehen. Die 24 Stunden von Le Mans 2016 werden als einer der größten „Heartbreaker“ in die lange Geschichte dieses Rennens eingehen, denn die emotionale Achterbahnfahrt in den letzten Minuten vor Passieren der Zielflagge – und auch noch danach – ist nahezu unbeschreiblich: Toyota verlor den sicher geglaubten, ja schon beinahe sicher gewussten Sieg regelrecht auf der Ziellinie – Porsche triumphiert zum zweiten Mal seit seinem Comeback 2014 und zum 18. Mal insgesamt; Marc Lieb und Neel Jani können ihren ersten Le Mans-Sieg feiern, Romain Dumas den zweiten nach seinem Triumph 2010 auf dem Audi R15+.

Le Mans 24 HoursDer „Le Mans-Blues“, dieses Gefühl der Leere nach einem durchlebten 24 Stunden-Rennen, war schon bei mir intensiver als sonst – aber was müssen erst die Frauen und Männer von Toyota Gazoo Racing durchgemacht haben, nachdem Kazuki Nakajima eine Runde vor Schluss ohne Vortrieb auf der Start/Ziel-Geraden liegenblieb und Neel Jani ihn passierte, um in die letzte Rennrunde zu gehen? Immerhin blieb es dem Fahrertrio der gestrandeten #5 – neben Nakajima waren dies Anthony Davidson und Sebastien Buemi – erspart, sich noch auf das Podium bemühen zu müssen, um die Pokale für den zweiten Platz entgegen zu nehmen: Der Wagen, der nach fehlerlosen 23 Stunden und 54 Minuten plötzlich antriebslos war, konnte die letzte Runde zwar noch absolvieren, doch nicht in der vom Reglement vorgeschriebenen Mindestzeit von sechs Minuten. Somit wird er nicht gewertet, und (doppelte!) Punkte für die WEC-Meisterschaftswertung gibt es auch nicht.

Zum fünften Mal wird Toyota in Le Mans Zweiter, nach 1992, 1994, 1999 und 2013. Hinzu kommt noch der Verlust einer deutlichen Führung in den frühen Morgenstunden des Rennens 2014, als das Versagen eines Cent-Artikels ein Feuer im schnellsten Auto des Rennens verursachte. Doch der grausamste Sieg – bis vorgestern – war wohl der Reifenschaden des Toyota GT-One (TS020) im Jahre 1999 in der letzten Rennstunde, der Ukyo Katayamas Aufholjagd auf den führenden (und später siegenden) BMW V12 LMR abrupt beendete. 1999 stand Audi erstmals auf dem Podium von Le Mans – und dank des Dramas in diesem Jahr konnten sie ihre Serie von Podiumsbesuchen mit dem Achtzehnten ohne Unterbrechung fortsetzen. Leider war es nicht die #7 von Renningenieurin Leena Gaade, deren Abschiedsrennen es war – doch die #8 mit Loic Duval, Lucas di Grassi und Olivier Jarvis kam mit weniger technischen Problemen durchs Rennen und konnte so am Ende aufs Podium aufrücken.

Regen in der Qualifikation und zum Rennstart

Eine knappe halbe Stunde vor Rennstart am Samstag begann es zu regnen – zunächst leicht, dann immer heftiger. Bereits am Donnerstag vor dem Rennen hatte es geregnet, so heftig sogar, dass Teile der Quali-Sessions mit roter Flagge abgebrochen wurden. So blieben die Zeiten der beiden Porsche 919 unangefochten, die #2 auf Pole mit einer 3’19.733 vor der #1, die eine knappe halbe Sekunde langsamer gewesen war. Die beiden Toyota TS050 standen mit einer beziehungsweise zwei Sekunden Abstand in Reihe 2, gefolgt vom Audi-Pärchen, dessen Zeiten zur Verwunderung vieler drei Sekunden langsamer waren als die der Konzernschwester aus Stuttgart-Zuffenhausen. Bei Audi war man nicht glücklich mit den schwierigen Wetterbedingungen, die die Setup-Arbeiten erschwerten; so fehlte sogar mehr als eine Sekunde auf die eigene Bestzeit vom Testtag zwei Wochen zuvor. Porsche dagegen fand fast drei Sekunden und so fuhr Neel Jani mit einer 3’19.733 die einzige Zeit des gesamten Rennwochenendes unter der 3‘20er-Marke.

Start Le Mans 24 Hour - Circuit des 24H du Mans - Le Mans - FranceDer Rennstart erfolgte – erstmalig bei den 24 Stunden von Le Mans – hinter dem Safety Car: Um Punkt 15 Uhr schickten Alex Wurz mit der grünen Flagge und Brad Pitt mit der französischen Tricolore das 60 Fahrzeuge starke Feld gemeinsam auf die Reise. Die Entscheidung der Rennleitung war in Anbetracht des stehenden Wassers und der durch „Spray“ stark eingeschränkten Sicht völlig richtig – schwierig jedoch war die Frage, wie lange das Safety Car auf der Strecke bleiben sollte. Nach einer guten halben Stunde wurden Fahrer und Fans ungeduldig, doch es sollte etwa 50 Minuten dauern, bis die Startlinie erstmalig unter Rennbedingungen passiert wurde: Die Hatz war eröffnet.

Die Strecke war zunächst noch feucht, vereinzelt gab es noch Niederschlag. Toyota #6 mit Stéphane Sarrazin, Kamui Kobayashi und Mike Conway eroberte die Führung und konnte sich leicht vom Porsche #2 und dem Audi #8, der sich zwischen die Konkurrenten gekämpft hatte, absetzen. Doch Audi sollte bald vom Regen in die Traufe geraten: Eine halbe Stunde nach dem Umschalten auf Rennbedingungen kam die #7 von André Lotterer, Marcel Fässler und Benoit Treluyer an die Box. Lotterer war die Anfangsphase gefahren, doch nun wurde der R18 aufgebockt und in die Garage geschoben. Der Turbolader war defekt und musste ausgetauscht werden, der Zeitverlust betrug 20 Minuten.

24h Le Mans 2016Damit war die #7 aus dem Rennen, das vorhergesagte Favoritensterben bei den Werks-LMP1 schien eingeläutet. Doch weitere Defekte blieben zunächst aus. Am Ende der zweiten Rennstunde, also nach knapp 70 Minuten „unter Grün“ hatte Toyota eine Doppelführung vor dem Porsche #1 inne, die Abstände zwischen den ersten drei Autos betrugen jeweils etwa eine halbe Minute. Die Strecke lies nun 3‘25er Zeiten zu, die schnellste Rennrunde hatte zwischenzeitlich Benoit Treluyer inne, der versuchte, den Rückstand von fünf Runden des Audi #7 zu verringern. Doch Audi wurde – wie bereits in Training und Qualifying – von Setup-Problemen geplagt. Das komplexe Fahrwerk, in dem die linke mit der rechten Seite und die vordere mit der hinteren Achse vernetzt ist, um die Aero-Performance zu optimieren, bereitete den Ingenieuren Kopfzerbrechen, das Potenzial des Wagens konnte nicht voll ausgefahren werden. Audi #8 blieb – so berichtete Kollege Flo, der auf Einladung von Audi vor Ort war, den höheren Teilen der Randsteine fern, um das Differentialgetriebe des KERS zu schonen, das sich in der Vergangenheit als problematisch erwiesen hatte. Audi schien damit früh aus dem Rennen um den Gesamtsieg zu sein.

So entwickelte sich über den späten Nachmittag und den Abend ein Rennen zwischen den beiden Toyota TS050 und den Porsche 919. Gefahren wurden Zeiten im 3‘21er Bereich, die – und das sollte sich am Sonntag als Überraschung herausstellen – bis zum Rennende die schnellsten Runden des Rennens bleiben sollten. Kamui Kobayashis 3’21.445 aus der 81. Rennrunde des #6 Toyotas, sollte die Top-Zeit der gesamten 24 Stunden bleiben. Möglicherweise war das Wetter hierfür mitverantwortlich, denn bis kurz vor Rennende sollte es nicht mehr so warm werden wie in den späten Nachmittags- und frühen Abendstunden. Fahrer anderer Klassen klagten am frühen Morgen über den niedrigen Grip der Strecke. Hinzukommen dürfte, dass inzwischen alle drei LMP1-Werke auf Batteriespeicher für ihre Hybridsysteme umgestiegen sind; Batterien verlieren bei der hohen Beanspruchung über ihre Lebensdauer Leistungsfähigkeit, sodass der so wichtige Boost, der im Zusammenspiel mit dem Verbrennungsmotor über 1000 PS zum Beschleunigen erzeugt, geringer ausfällt.

#6 TOYOTA GAZOO RACING (JPN) / MICHELIN / TOYOTA TS050 - HYBRID / Stéphane SARRAZIN (FRA) / Michael CONWAY (GBR) / Kamui KOBAYASHI (JPN)Le Mans 24 Hour - Circuit des 24H du Mans - Le Mans - FranceGleichzeitig wurde ein anderer rennentscheidender Faktor immer offensichtlicher: Toyota konnte als einziger der drei LMP1-Konstrukteure 14 Runden zwischen zwei Tankstopps absolvieren. Dies ist – wie auch Paul Truswell bei Radio Le Mans mehrfach anmerkte – insofern überraschend, als dass das Reglement Tankgröße und Benzinfluss für die LMP1-Autos klar regelt und Porsche und Toyota als Turbo-Benziner hier gleich behandelt werden. Es stellte sich daher eher die Frage, warum Porsche nur 13 Runden fuhr, nicht, warum Toyota 14 Runden fahren konnte. Eine Möglichkeit ist, dass man bei Porsche lieber etwas mehr Puffer im Tank haben wollte und so gleichzeitig die einzelnen Stopps jeweils etwas verkürzen konnte, da weniger Sprit in den Tank fließen musste: Reine Tankstopps der Porsche dauerten jeweils etwa 65, 66 Sekunden, während die Toyotas 68 bis 69 Sekunden standen. Auf der anderen Seite würde Toyota über die Renndauer mit konstanten 14 Runden-Stints ein bis zwei Boxenstopps komplett einsparen können. Rein rechnerisch ergibt dies einen größeren Zeitvorteil als die bei jedem Boxenstopp von Porsche eingesparten (rund) drei Sekunden.

Bis Ende der achten Rennstunde wechselte die Führung immer wieder zwischen dem Toyota mit der #6 und dem Porsche mit der #1, der Rhythmus der Führungswechsel verschob sich dabei stetig weiter mit der Anzahl von Toyotas 14 Runden-Stints. Toyota #5 verlor etwa anderthalb Minuten Zeit, nachdem ein schleichender Plattfuß einen zusätzlichen Reifenwechsel erzwang. Ab dem Ende er anfänglichen Safety Car-Phase bis gegen 23 Uhr lief das Rennen stetig und ohne weitere Safety Car-Einsätze oder „Slow Zones“, also Geschwindigkeitsbeschränkungen für bestimmte Streckenabschnitte. Bei Audi wurden um kurz vor 11 erst die #7, dann die besser platzierte #8 in die Garage geschoben, um Abstimmungsänderungen vorzunehmen und kleinere Probleme zu beheben; bei der #8 konnte dies innerhalb weniger Minuten erledigt werden, nachdem man die Reparaturen an der deutlich zurückliegenden #7 zuvor als „Generalprobe“ genutzt hatte.

Trubel vor der ruhigen Nacht

Wenige Minuten später wurde es dann turbulent: Um 23:12 kam Brendon Hartley, der den Porsche #1 gerade erst übernommen hatte, erneut in die Box. Der 919 wurde in die Garage geschoben, per Hebebühne in die Höhe gehievt und weitgehend auseinander genommen. Eine Kühlwasserpumpe hatte versagt und musste ausgetauscht werden – der Zeitverlust für den Wechsel belief sich zunächst auf 75 Minuten, doch auch dann lief die #1 noch nicht sauber und musste die Box erneut besuchen, diesmal stand der Wagen für ganze 80 Minuten still, während die Crew ihn instand zu setzen versuchte. Auch wenn dies letztendlich gelang, war damit auch ein Porsche aus dem Rennen um den Sieg herausgefallen. Die #1 hatte bis zu ihrem Problem mit 53 Führungsrunden die Spitze in dieser Statistik inne.

Le Mans 2016Auf der Strecke wurde bei einbrechender Dunkelheit ein Wechsel aus Safety Car-Phasen und Slow Zones eingeläutet, verursacht durch Unfälle oder Defekte von Fahrzeugen anderer Klassen (dazu später mehr); schwere Unfälle waren bis dahin zum Glück ausgeblieben. Das Safety Car ermöglichte es Porsche, einen Stint der #2 auf 14 Runden auszudehnen, doch insgesamt blieb der Nachteil. bestehen. Das Wechselspiel zwischen Toyota und Porsche, das die erste Rennphase bestimmt hatte, sollte sich fortsetzen, nun mit der #2 statt der lahmgelegten #1 gegen die meist führende #6 der Japaner.

In der Nacht konnte dieser Porsche, der meist im Bereich 3’24 bis 3’26 fuhr (vereinzelt eingestreut Zeiten im 3‘22er- und 3‘23er-Bereich), jedoch recht beständig den Vorsprung des führenden Toyotas verringern. Dessen Rundenzeiten lagen eher im Bereich 3’25 bis 3’28, wobei Kamui Kobayashi in den frühen Morgenstunden nicht mit Setup und Streckenbedingungen zurechtzukommen schien und viel Zeit einbüßte. In der dreizehnten Rennstunde, also der ersten in der zweiten Rennhälfte, verringerte sich der Rückstand der #2 auf die #6 so von 44 auf 36 Sekunden; um viertel vor Fünf wurde Marc Lieb in der #2 durch einen schleichenden Plattfuß jedoch zu einem zusätzlichen Stopp gezwungen, was den Abstand wieder vergrößerte. Auch Anthony Davidson in der #5 konnte den Rückstand auf den führenden Kobayashi reduzieren – um halb Sechs morgens waren die drei Top-Platzierten innerhalb einer Minute auf der Strecke.

Porsche 919 Hybrid, Porsche Team: Romain Dumas, Neel Jani, Marc LiebNoch enger wurde es zwei Stunden später: Das Safety Car kam wegen mehrerer Zwischenfälle und gestrandeter Fahrzeuge an verschiedenen Stellen raus – und als die Lichter ausgeschaltet wurden und das Rennen fortgesetzt wurde, waren die ersten drei (in der Reihenfolge Porsche #2 – Toyota #6 – Toyota #5) in derselben Safety Car-Schlange. In Le Mans werden bekanntlich aufgrund der Streckenlänge drei Safety Cars in gleichmäßigen Abständen eingesetzt; wer bei neutralisierter Strecke einen Boxenstopp einlegt, muss sich am Ende der nächsten passierenden Safety Car-Schlange einreihen. So machten es die beiden Toyotas, die somit beim Restart eine Minute hinter dem Porsche #2 lagen.

Enges Rennen im Morgengrauen

Als dieser Wagen kurz vor 8 Uhr morgens von Marc Lieb auch zum Routine-Stopp an die Box gebracht wurde, kam er genau hinter den beiden Toyotas wieder auf die Strecke. Zwischen der führenden #5, die inzwischen das Schwesterauto passiert und damit erstmals die Führung übernommen hatte, und der drittplatzierten #2, dem verbliebenen Porsche, lagen zu diesem Zeitpunkt nur etwa drei Sekunden, und das nach 17 Stunden Rennzeit. 267 Runden waren zu diesem Zeitpunkt gefahren.

Le Mans 24 HoursIn Runde 266 hatte Sebastien Buemi in der #5 vor der ersten Hunaudières-Schikane die Führung von seinem Teamkollegen übernommen; bis in die Schlussphase sollte dieser Toyota der Hauptkonkurrent des Porsche mit der #2 bleiben, denn Sebastien Buemi konnte sich in der nächsten Stunde von Mike Conway in der #6 leicht absetzen. Die Führung wechselte zwischen der #5 und der #2 mit dem Rhythmus der Stopps, wie in der Nacht zwischen der #6 und der #2; weiterhin absolvierte nur Toyota jeweils 14 Runden mit einer Tankfüllung. Ein Ausrutscher von Kamui Kobayashi ins Kiesbett ausgangs der Porsche-Kurven zwang den Toyota #6 zu einem längeren Wartungsstopp in die Garage; damit war es endgültig ein Duell zwischen der #2 und der #5.

Immer wieder wurden Slow Zones an verschiedenen Streckenteilen ausgerufen; ob und wie stark diese in der Summe den Führungskampf beeinflusst haben, lässt sich auch aus den vorliegenden Zeitnahme-Daten nicht ermitteln, da es jeweils von der Position der Fahrzeuge im Verhältnis zu Ausrufung und Aufhebung der Slow Zones abhängt, ob ein Fahrzeug einige Sekunden auf die Konkurrenz gewinnt oder verliert. Insgesamt schienen die Auswirkungen auf den Führungskampf jedoch untergeordnet zu sein. Beinahe jedoch wäre eine Slow Zone in den Morgenstunden dem Porsche #2 zum Verhängnis geworden, als Marc Lieb mitten in den Porsche-Kurven beim späten Abbremsen das Steuer nach links reißen musste, um nicht in die Leitplanke einzuschlagen; dies hätte das Rennen bereits zugunsten von Toyota entscheiden können.

Porsche 919 Hybrid, Porsche Team: Romain Dumas, Neel Jani, Marc LiebIn den Vormittagsstunden entwickelte sich das Rennen wieder zugunsten von Toyota, nachdem der Porsche in der Nach so dicht herangekommen war. Beide Kontrahenten konnten nun recht konstant Zeiten im Bereich von 3’24 bis 3’25 fahren, wobei Marc Lieb in der #2 Ausreißer „nach unten“ bis in die 3‘22er hatte, während Buemi und Davidson gelegentlich Runden im 3‘27er-Bereich einstreuten. Der Überrundungsverkehr, der bei nun 60 Fahrzeugen und in diesem Jahr wenigen Ausfällen auch am Sonntagmorgen noch eine große Rolle spielte, dürfte hier eine Rolle gespielt haben. So konnte Porsche den Abstand in der Mittagszeit auf etwa eine halbe Minute eindampfen.

Doch es gab mehrere Fragezeichen und bei Porsche hatte man schon in den Morgenstunden zu rechnen begonnen: Die 13 Runden-Stints (im Vergleich zu Toyotas konstanten 14 Runden) würden einen kurzen Extra-Tankstopp, einen sogenannten „Splash & Dash“ erfordern, der Porsche mit der An- und Abfahrt durch die Boxengasse bei 60 km/h den Sieg kosten könnte. Die einzige Alternative war, selbst auf 14 Runden-Stints umzusteigen. Doch hierfür musste man in jeder Runde etwas Sprit einsparen, denn einen Puffer, der diese eine zusätzliche Runde ermöglicht hätte, gab es anscheinend nicht. Ein wesentlicher Faktor in Le Mans ist die Länge der Runde: Um Kraftstoff für eine komplette Runde von 13,6 km Länge zu sparen, muss man über den ganzen Stint deutlich Gas zurücknehmen.

Porsche 919 Hybrid, Porsche Team: Romain Dumas, Neel Jani, Marc LiebUnd so versuchte es Porsche: Auf den Abschnitten der langen Hunaudières-Geraden „segelte“ er vor den Bremspunkten, ging also deutlich früher vom Gas als der führende Toyota. Der Topspeed-Unterschied am Messpunkt (der für die LMP1-Boliden ungünstig platziert ist und nicht den wahren Topspeed offenbart, aber für diesen Fall dennoch aussagekräftig ist) betrug in jeder Runde 15 bis 25 Stundenkilometer. Während der Toyota die Lichtschranke mit 315 bis 320 km/h passierte, waren es beim Porsche meist nur um die 295 km/h. Gleichzeitig schwenkte man bei Porsche – und diese Entscheidung fiel schon am frühen Morgen – auf Vierfach-Stints um, um einen Reifenwechsel und damit eine weitere halbe Minute einzusparen.

Es ist bemerkenswert, wie Marc Lieb und Neel Jani trotz dieser Einschränkungen bei Spritverbrauch und Reifen trotzdem weiter Rundenzeiten im Bereich von 3’24 bis 3’25 – mit Ausreißern nach oben und nach unten – drehen konnten. So konnten Lieb und Jani weiterhin Druck auf den führenden Toyota ausüben, in dem in der Schlussphase erst Anthony Davidson, dann Kazuki Nakajima viele 3’23 Zeiten (jedoch mit Ausreißern nach oben) in den Asphalt brannten. So konnten sie den Vorsprung von 30 Sekunden stets verteidigen. Ab etwa 11 Uhr vormittags gab der Toyota #5 die Führung nicht mehr her – auch nicht bei den Boxenstopps. Alles schien auf einen Sieg der Japaner mit dem in Köln gebauten TS050 hinauszulaufen.

Drama auf der Ziellinie

Um 14:20 holte sich Neel Jani zum letzten Mal eine Ladung Benzin ab, eine Runde später, um 14:23, Kazuki Nakajima. Der Abstand blieb im Großen und Ganzen unverändert bei einer halben Minute, auch wenn das Rundenzeiten-Pendel mal zu Gunsten von Toyota, mal von Porsche ausschlug. Dann schien die Entscheidung endgültig zu fallen: Elf Minuten vor Rennende steuerte Neel Jani in der #2 erneut die Box an, bekam neue Reifen, ein weiterer schleichender Plattfuß war der Anlass. Die Sieger-T-Shirts wurden schon eingepackt, bei Toyota sehnte man das Rennende herbei, der erste Le Mans-Sieg für den größten Autohersteller der Welt schien zum Greifen nahe.

Sechs Minuten vor Schluss begann das Drama: Auf der Hunaudières-Geraden verlangsamte der Toyota mit der #5, Pilot Nakajima meldete einen Verlust des Vortriebs an die Box. Die überrundete #6 passierte das Schwesterauto, ohne etwas tun zu können, und Neel Jani verringerte den Rückstand in gewaltigen Schritten. Nakajima meldete, er fahre im Drehzahl-Begrenzer, was auch zu hören war. Er passierte die Boxeneinfahrt und blieb auf der Rennstrecke – und blieb ausgerechnet auf der Start/Ziel-Gerade, kurz nach Überfahren der Linie zum Einläuten der letzten Rennrunde, vor den vollbesetzten Tribünen liegen. Wer Radio Le Mans hörte, für den stellte sich die Situation noch dramatischer da, denn die Crew hatte den Toyota-Boxenfunk nicht mitbekommen und vermutete zunächst noch ein versuchtes Foto-Finish, bis das Drama schließlich offensichtlich wurde.

Le Mans 24 HoursÜber 263.000 Zuschauer waren vor Ort und sahen schockiert, wie der Porsche von Neel Jani aus den Ford-Schikanen herausbeschleunigte und mit dem Passieren des an der Boxenmauer gestrandeten Toyotas zu Beginn der letzten Runde die Führung übernahm: Entsetzen in der Toyota-Garage, unbändige Freude bei Lieb und Dumas in der Porsche-Box. Jani absolvierte die Runde ohne Probleme und holte für Porsche den 18. Gesamtsieg bei den 24 Stunden von Le Mans. Es mag ein „Abstauber-Sieg“ gewesen sein, doch Porsche kann man das nun wirklich nicht anlasten. Neel Jani, Romain Dumas und Marc Lieb sind in der #2, die im Gegensatz zum Schwesterauto fehlerfrei lief, ein starkes, wenn auch nicht fehlerfreies Rennen gefahren.

Und auch taktisch war dieser Sieg keine Meisterleistung: Noch keine Erwähnung fand hier bislang der kurze Zwischenspurt von Romain Dumas am Sonntagmorgen von 6:16 Uhr bis 6:50 Uhr, der zunächst Verwirrung auslöste. Als Dumas einstieg, wurden keine Reifen gewechselt – ungewöhnlich für einen Boxenstopp mit Fahrerwechsel. Nach nur zehn Runden kam er erneut an die Box und übergab an Neel Jani, der auch wieder frische Reifen bekam. Es wurde vermeldet, dass Jani zum ersten Stopp noch nicht bereit gewesen sei und dass ein weiterer schleichender Plattfuß zum verführten nächsten Stopp mit erneutem Reifenwechsel geführt habe – doch hier besteht weiterhin Unklarheit. Ein Blick auf die Zeitnahme-Daten verrät zumindest, dass Romain Dumas ohne diesen kurzen Extra-Stint nicht die minimale Fahrzeit von sechs Stunden erreicht hätte und der Porsche damit disqualifiziert worden wäre. Möglicherweise war dies auch eine Phase des taktischen Umdenkens bei Porsche, in der man entschied, dass es Vierfach-Stints der beiden schnellsten Piloten Jani und Lieb bedürfen würde, um eine Chance gegen Toyota zu haben.

Porsche Team: Romain Dumas, Marc Lieb (l-r)Am Ende siegte Porsche #2 mit drei Runden Vorsprung vor dem Toyota #6 von Sarrazin, Conway und Davidson, während di Grassi, Duval und Jarvis mit zwölf Runden Rückstand auf den Sieger einen Podiumsplatz erbten und die Serie von Audi aufrechterhielten. Audi #7 wurde mit 17 Runden Rückstand als Vierter gewertet, Porsche #1 mit 38 Runden Rückstand als Klassen-Vierter und Dreizehnter der Gesamtwertung. Nicht gewertet wurde der Toyota #5, auch wenn Kazuki Nakajima die Schlussrunde noch im Schneckentempo absolvieren konnte: Eine vor einigen Jahren eingeführte Regel besagt, dass die Runde in einer Zeit unter sechs Minuten absolviert werden muss (um exzessives Warten vor der Ziellinie zu unterbinden) – Nakajima brauchte knapp zwölf Minuten. Die Schmach, als Zweite auf dem Podium stehen zu müssen, blieb dem Trio somit erspart, doch auch Meisterschaftspunkte gibt es somit trotz bis dahin starker Vorstellung nicht.

Nur ein einziger LMP1-Privatier erreichte das Ziel: Der Rebellion-AER mit der #12 und den Fahrern Nick Heidfeld, Nelson Piquet jr. und Nicolas Prost wurde nach wiederkehrenden Kupplungsproblemen 29. der Gesamtwertung. Das Schwesterauto #13, bis dahin gut platziert auf Gesamtrang 5, rollte in der Nacht ohne Vortrieb aus. Der dritte Privatier, das Bykolles-Team, konnte mit dem CLM P1/01 zunächst nur verspätet ins Rennen gehen und musste den Wagen am Sonntagvormittag schließlich aufgrund eines Brandes – nur einer von mehreren in dieser Woche – endgültig aufgeben.

Porsche übernimmt die Meisterschaftsführung

Das vielfach befürchtete große Favoritensterben blieb aus, alle drei Hersteller haben nach den schwierigen WEC-Läufen in Silverstone und Spa massiv an der Zuverlässigkeit gearbeitet. Und doch wurde ein Auto jedes Herstellers durch Fehlfunktionen und notwendige Reparaturen zurückgeworfen: die #7 von Audi bereits in der zweiten Rennstunde mit dem Turbo-Schaden, die #1 von Porsche um Mitternacht mit der fehlerhaften Wasserpumpe und der Toyota #5 kurz vor Rennende, bei dem ein Reparaturversuch gar nicht mehr unternommen werden musste. Die genaue Ursache des Fehlers ist nach wie vor unklar, aber wird sicherlich bis zum nächsten WEC-Lauf am Nürburgring bekannt werden.

24H_Le_Mans_Race2_2016_4870 Punkte kassiert Porsche für die Plätze 1 und 5 – sowie einen weiteren für die Pole – und übernimmt damit die Führung in der Hersteller-Meisterschaftswertung von Audi. Die Ingolstädter erhalten für die Ränge 3 und 4 54 Punkte und kommen nun auf 95 im Vergleich zu den 127 von Porsche. Toyota bekommt für die auf Platz 2 gewertete #6 „nur“ 36 Zähler und kommt damit auf insgesamt 79. In der Prototypen-Fahrerwertung führen nun Jani, Lieb und Dumas mit 94 Punkten (50 gibt es für den Le Mans-Sieg) deutlich vor Duval, di Grassi und Jarvis mit 55 sowie Kobayashi, Conway und Sarrazin mit 54 Punkten.

Der nächste WEC-Lauf wird am 24.07. auf dem Nürburgring ausgetragen. Toyota wird auf Wiedergutmachung sinnen, doch ob der für Le Mans entwickelte TS050, dessen High Downforce-Paket bislang noch nicht zum Einsatz kam, auch dort überzeugen kann, muss sich noch zeigen. Toyota-Präsident Akio Toyoda hat jedoch bereits bekannt gegeben, dass man auch im nächsten Jahr in Le Mans am Start sein wird und nach dem Drama am vergangenen Wochenende einen erneuten Versuch übernehmen wird, endlich den ersten Sieg an der Sarthe einzufahren. Nach dem Rennen ist vor dem Rennen, und sobald der „Le Mans-Blues“ überwunden ist, wird man sich in Japan – und in Köln – an die Arbeit machen, um nach Mazda 1991 endlich den zweiten japanischen Le Mans-Sieg zu holen.

Auf die weiteren Klassen (LMP2, GTE-Pro und GTE-Am) werde ich in einem eigenen Analyse-Text zurückblicken.

 (Bilder: WEC Media / Porsche / Audi / Toyota)

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2 Kommentare

Guest1 20 Juni, 2016 - 20:44

Schöne Zusammenfassung des Renngeschehens in der LMP1.

Kleine Korrektur: 2 Absatz:…nachdem Kazuki Nakajima
eine Runde vor Schluss ohne Vortrieb auf der Start/Ziel-Geraden liegenblieb und Marc Lieb in passierte,…
Es war Neel Jani statt Marc Lieb und ein „h“ hat sich auch verflüchtigt (ihn statt in).

ub 21 Juni, 2016 - 15:20

Danke für die Zusammenfassung. Zum Thema Safety-Car-Start mal noch ne Anmerkung. Den gab es tatsächlich schon mal. 1987 war das Wetter ähnlich. Man konnte auch erst nach einer zusätzlichen Runde hinter dem Safety-Car starten, hat dann aber einen normalen Rennstart kurz nach 4 hingelegt. Bin mir jetzt nicht ganz sicher, ob die Zielflagge dann am Sonntag um 4 gefallen ist oder ob man die Zeit für die Extrarunde hinten angehängt hat.

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